Günter Nest


5 Thesen

Das Paradox heutiger Forschung und Lehre in den „urban studies“
Es kommt ein bitteres Paradox zum Vorschein, wenn die Ergebnisse von so genannten inter- oder multidisziplinären Stadtforschungs- und Entwicklungsprojekten betrachtet werden. Nicht nur bestehen sie oft lediglich in „Nebeneinanderstellungen“ von diversen (nicht immer gleichberechtigten) Disziplinen, die nicht miteinander kommunizieren. Dabei wird die Kreativität von Architekten und Künstlern darauf reduziert, Konkretisierungen oder gar Visualisierungsformen für die von anderen – Geisteswissenschaftlern, Soziologen, Ökonomen – analysierten Zusammenhänge zu entwerfen. Zweierlei wird hier ersichtlich: Einerseits das Scheitern beanspruchten, und wünschenswerten, interdisziplinären Arbeitens in einer Epoche zunehmender Spezialisierung. Andererseits, dass Architektur und Kunst, bereits auf dem Wege zur kompletten Ökonomisierung angesichts immer stärker werdender Konkurrenz, zur Entwicklung von systemunkritischen „Produkten“ verführt werden. Arm an Instrumente, um die heutigen gesellschaftlichen Phänomene zu analysieren und vor allem zu verbalisieren, riskieren Architekten und Künstler, weit von einer Einsperrung im Elfenbeinturm, auf eine ungewollte Isolation vom aktuellen Geschehen verdammt zu werden.
Dabei stellt gerade Kunst das gesellschaftliche Feld dar, in dem aktuelle Probleme von kosmopolitischem Interesse und ernstzunehmende theoretische Lösungsansätze erkannt, aufgezeigt und thematisiert werden. Kann man ihr einen gleichgestellten Platz in heutigen Debatten verleihen, und können Brücken zwischen bisher nicht genug kommunizierenden Disziplinen geschlagen werden?




  1. Ein „urbanes Jahrhundert“ bedeutet globalisierte Urbanisierung (und eine Herausforderung an die „Stadtgestalter“ von Morgen).
    Seit der Erklärung des 21. Jahrhunderts zum Urbanen Jahrhundert; seit der Feststellung, dass jeder zweite Mensch in urbanen Konglomeraten lebt und bald mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten leben wird; aber auch: seitdem das Denken über „Globalisierung“ mit Saskia Sassen ein Denken über „global cities“, d.h. über wirtschaftlich vernetzte und auf Produktion und Konsumption ausgerichtete Städte, geworden ist, haben neue Definitionsversuche den – traditionell vieldeutig interpretierten - Begriff „Stadt“ umso unschärfer und konfuser gemacht.
    Anstatt diesem nachzutrauern, ist es sinnvoll, nach Alternativen zu suchen, die es ermöglichen, weiterzudenken. Es geht mitunter um die Suche nach neuartigen Ansätzen, um angesichts der aktuellen – noch zu beobachtenden und zu beschreibenden – Phänomene handeln zu können; dazu sind Planungsinstrumente sowie Interventionsmöglichkeiten, ästhetische Werte sowie ethische Prioritäten neu zu ergründen. Dass Urbanisierung „globalisiert“ (und nicht bloß „global“) ist, bedeutet, dass die sie ausmachenden Phänomene vernetzt sind, einander implizieren, und transregional und transkulturell ausfallen. Im Gegensatz zu rein ökonomischen Stadtanalysen bedarf es neuer Perspektiven, welche die Komplexität und Vielschichtigkeit dieser Phänomene zu berücksichtigen und erfassen vermögen.


  2. Stadt -> Raum (das auch beinhaltete der „spatial turn“!).




- „Die Stadt ist tot“ (Jane Jacobs).
- „Es lebe der Raum!“.
Die gesuchte Alternative verbirgt sich in dieser Antwort auf den bereits in den 60er Jahren ausgerufenen „Tod“ der Stadt in ihrem Selbstverständnis als Ort der Differenz und eines urbanen öffentlichen Lebens, aber auch als vom Land klar unterscheidbare Entität. Der Übergang von Stadt zu Raum ermöglicht eine Überwindung jener Einschränkungen, die das Denken über Stadt - nach deren Verlust von Identität, Grenzen, sowie vom ihr traditionell zugeschriebenen Kohäsionsvermögen - erfährt.
Über Raum bzw. über räumliche Zusammenhänge zu denken heißt, die für das 19. Jahrhundert charakteristische Konzentration auf Zeit und, somit, auf eine Epochen und Hierarchien bildende Historie, zu verlassen. Vordergründig wird eine flexiblere Denkrichtung, die Gleichzeitigkeit (von an verschiedenen Orten stattfindenden Phänomenen und Bewegungen), Hybridität und Überlappung von Differenzen in einer postmodernen Welt erfasst. Raum ist Bedingung des Sozialen, insofern soziales Leben in jener postmodernen Welt unter besagten Bedingungen stattfindet.




  1. „Raum“ ist nicht dichotomisch kategorisierbar.
    Über und im Raum zu denken bedeutet wiederum, sich auf eine widerspenstige, weil abstrakt/philosophische und konkret/geographische zugleich, Größe einzulassen. Hinzu kommt, dass sich selbst die in der Stadtsoziologie stark gewordene Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Raum angesichts heutiger Entwicklungen als obsolet erweist. Die Bedeutung öffentlichen und privaten Raums wurde hierin polarisiert in den Figuren der Straße als Plattform sozialen Geschehens einerseits, und des Heims als Bühne individuellen, persönlichen, emotionalen Lebens andererseits. Was ist jedoch der „öffentliche“ Wert der Straße, die von Polizisten reglementiert, von Kameras überwacht und von Autofahrern als persönliches Eigentum missbraucht wird? ...Was ist emotional und privat am Interieur der vielen um- und zwischen- genutzten Gebäude mitteleuropäischer Innenstädte, in denen kein Familien-, sondern das Arbeitsleben vieler Stadtbewohner stattfindet? ...Sind die von illegalen Verkäufern und pavement dwellers besetzten und bewohnten Straßen heutiger Mega Cities noch „öffentlich“? Findet dort nicht vielmehr das individuelle Alltagsleben tausender Stadtbewohner statt, ist jener vermeintlich öffentliche Raum aufgrund der ständigen Reibungen und Aushandlungen mit dem öffentlichen Sektor (hier: Polizei und Planungsämter, in der Regel beteiligt an der Vertreibung der „Eindringlingen“) nicht äußerst emotional geladen?


  2. Raum ist ein dreiteiliger (Produktions-)Prozess.




- „Raum wird produziert, und der Prozess dieser Produktion ergibt Stadt“ (Henri Lefebvre).
Zusammen mit Lefebvre wird mit „Raum“ eine Gesamtheit gebündelter Phänomene gemeint, die in gegenseitiger Interaktion Stadt und Urbanität schaffen. „Stadt“ existiert im Raum, und alles Gesellschaftliche wickelt sich im Raum ab. „Raum“, als Prozess verstanden, setzt sich aus drei spezifischen „Produktionsprozessen“ oder „Felder“ zusammen. Erstens sind im physischen Feld die materiell-technischen Bedingungen von Städten (Gebäude, Infrastruktur, Institutionen...), aber auch die Routinen des Alltags, impliziert. Zweitens wird im mentalen Feld Raum als kulturelle Kategorie produziert, die sowohl von religiösen, rituellen und allgemein kulturellen Repräsentationen als auch von der Tätigkeit von Planern und Architekten hervorgeht. Drittens entsteht im sozialen Feld ein „sozialer Raum“, der das Ergebnis alltäglicher Praktiken und menschlicher Interaktionen ist und in sich das Potenzial für die Verwirklichung eines sozial handelnden Individuums birgt. Allerdings: Die drei Felder sind ihrem Wesen nach voneinander abhängig und müssen als gleichwertig und gleichzeitig verstanden werden.
Die Folge, für Forscher aber auch Praktiker, dieser Theorie ist die grundsätzliche Forderung zur Vereinigung verschiedenster Aspekte von Alltagsstrukturierung, kultureller Produktion und menschlichen Zusammenlebens in die Betrachtung von Stadt.




  1. Taktiken gegen Strategien oder: Das Tückische an den Raum-Strategien
    Um die kritische Analyse von, die (öffentliche) Diskussion über und Intervention in, räumlichen Zusammenhängen zu fördern, ist es notwendig, Raum-Strategien zu studieren. Im Einklang mit Michel de Certeau wird der Begriff „Strategie“ im Gegensatz zu „Taktik“ verstanden. Während Strategien von Institutionen hervorgehen und Machtstrukturen widerspiegeln, nutzen Individuen Taktiken, um in einer mittels strategischen Handelns definierten Umwelt eigenen Raum zu schaffen. Urbaner Raum ist wie kaum anderer das Resultat von Planung, also von strategischem Denken. Er ist somit sowohl im Bereich des mentalen als auch des physischen Felds Lefebvres anzusiedeln: Da, wo ideologische Repräsentationen den Alltag definieren, und da, wo die Stadtbewohner die Routinen jenen Alltags mechanisch „reproduzieren“ müssen. Indessen bewegen sich dieselben Stadtbewohner oft „taktisch“ eher denn nach Plan auf den Straßen der Stadt; sie nehmen Abkürzungen und reagieren individuell auf punktuelle Unterbrechungen, genauso wie sie flanieren und „bummeln“. Diese Praktiken verdeutlichen den Charakter des sozialen Felds als Resultat ständiger Aushandlung-, Interaktions- und Anpassungsprozesse seitens sozial handelnder Individuen in einem sozialen Raum.



Demzufolge besteht die Aufgabe der Studierenden am Studiengang RaumStrategien in der (auch vergleichenden) Analyse dieser Strategien, in der Entwicklung kreativer und kooperativer „Gegen-Taktiken“, welche der jeweiligen (kulturellen, sozialen, politischen) Bedeutung öffentlichen Handelns gerecht werden, in der Herstellung von Medienöffentlichkeit für räumlich relevante Themen sowie im Entwurf kommunikativer „Irritationsräumen“, die unterschwellige Strategien zum Vorschein bringen und sie auf den Kopf stellen.



Berlin, 09. Februar 2009,
Günter Nest