Sommersemester 2014, MA Raumstrategien Raumstrategien_Startseite

Die Bürger von Calais: Gruppenprojekt

Bienvenue à Calais

 

Bericht von einer Exkursion nach Calais im Juni 2014 im Rahmen des Studiengangs Raumstrategien der Kunsthochschule Weissensee

 

„Morgen ist ein anderer Tag! Heute sitze ich hier mit dir und gebe dir ein Interview, aber morgen? Ich weiß nicht was morgen ist. Vielleicht schaffe ich es heute Nacht nach Großbritannien, vielleicht schnappen sie mich und schicken mich zurück nach Italien oder Afghanistan? Vielleicht sterbe ich auch beim Versuch auf einen LKW zu gelangen, wer weiß, heute ist heute und was morgen ist, das weiß ich nicht.“ (John Abdullah)

 

Im Juni 2014 trafen wir während unserer Exkursion den Afghanen John Abdullah in Calais. Zum zweiten Mal auf dem Weg nach Großbritannien verweilte er bereits vier Monate in der französischen Hafenstadt. Diese passierte er das erste Mal zu Beginn des Millenniums. Damals brauchte er nur eine Woche vor Ort bis er es schaffte unbemerkt nach England überzusetzen. Dort angekommen stellte er einen Asylantrag. Der wurde abgelehnt, im Jahr 2006 wurde John nach Afghanistan zurückgeschoben. Als Begründung wurde ihm mitgeteilt, er müsse schließlich nicht zurück ins Krisengebiet seiner Heimatregion Kuner, sondern könne in der Hauptstadt Kabul ohne größere Probleme leben. Ein Jahr später machte John sich wieder auf dem Weg. Diesmal dauerte seine Reise länger, bisher sieben Jahre. Er lebte unter anderem in der Türkei, in Griechenland, Rumänien, Italien und den Niederlanden bevor er erneut den Sprung nach England wagte.

 

An der nordfranzösischen Küste gelegen, überblickt man von Calais aus die engste und stark befahrene Seestraße des Ärmelkanals. Nur 34 km ist die Südküste Englands entfernt; an klaren Tagen sind die Kreidefelsen von Dover sichtbar. Von hier aus hoffen fast jede Nacht zahlreiche junge Männer, aber auch Frauen auf eine Gelegenheit, versteckt in oder unter einem LKW nach Großbritannien übersetzen zu können, um sich dort ein neues Leben aufzubauen.

 

Die Mehrheit von ihnen sind sans papier. Viele möchten weder einen Flüchtlings- noch Aufenthaltsstatus auf dem europäischen Festland erlangen, sondern ihr Glück in Großbritannien versuchen. Gründe dafür sind unter anderem die englische Sprache, die vor allem in den ehemaligen britischen Kolonien wie Sudan, Afghanistan oder Pakistan, wo viele von ihnen herkommen, verbreiteter ist als andere europäische Sprachen. Vor allem wollen sie auf die Insel, da sie dort Familie und Bekannte haben. Der Großteil jedoch wurde bereits in einem anderen europäischen Land - häufig in Italien - aufgegriffen und musste seine Fingerabdrücke abgeben. Das Dublin II Verfahren regelt, dass dasjenige Land für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist, in welchem die Geflüchteten zuerst per Fingerabdruck erfasst worden sind. Werden sie in einem anderen europäischen Land aufgegriffen, werden sie in das sogenannte Erstland zurückgeschoben. Großbritannien bietet ihnen, da es dort, anders als in vielen europäischen Staaten, keine verdachtsunabhängige Personalausweiskontrollen auf der Straße gibt, die Möglichkeit auch ohne Aufenthaltspapiere in den großen Städten unterzutauchen. Zudem haben hier auch Migrant_innen ohne Papiere auf dem, seit den 1980er Jahren neoliberal durchstrukturierten Arbeitsmarkt, einen besseren Zugang.

 

Mit seiner spezifischen geographischen Lage ist Calais ein Brennpunkt für Auseinandersetzungen und Konflikte um Grenzen und Bewegungsfreiheit im Zuge der sich immer mehr verschärfenden europäischen Migrationspolitik. Seit Beginn der 1990er durchqueren jährlich mehrere tausend Migrant_innen die Stadt. Trotz modernster Kontrollmechanismen gelingt einigen von ihnen regelmäßig die heimliche Einreise in das Vereinigte Königreich. Doch bis es soweit ist, vergehen oft mehrere Monate, in denen sie starker Polizeirepression ausgesetzt sind. Während ihrer Zeit in Calais finden sie Unterkunft in leerstehenden Häusern oder in „wilden“ Lagern, so genannten „Jungles“. Dies sind im Unterholz selbst errichtete Hüttendörfer aus Plastikplanen, Paletten und sonstigen im Stadtraum auffindbaren Materialien. Regelmäßig werden die Migrant_innen von der Polizei verfolgt und festgenommen, um dann außerhalb der Stadt wieder frei gelassen zu werden. Wie viele andere, erzählt John, wurde er beim Versuch in einen LKW zu gelangen von der Polizei brutal zusammen geschlagen. Seitdem ist seine Nase gebrochen. Immer wieder räumt die Polizei Häuser und „Lager“ und zerstört ihre Zelte, Schlafsäcke und persönlichen Besitz. Trotzdem nimmt die Anzahl der Durchreisenden nicht ab. Wird ein Lager zerstört, verstreuen sich die Migrant_innen und bauen bald darauf an anderer Stelle ein neues auf.

 

Noch vor kurzem existierten mitten in der Stadt entlang des Kanals zwei Zeltlager mit insgesamt rund 200 Zelten. Die Bürgerbewegung „Sauvons Calais!“ (zu deutsch: „Retten wir Calais“) machte dagegen mobil, sammelte Unterschriften und forderte die Bürger Calais zur „Selbsthilfe“ auf. Im April rief sie zusammen mit anderen rechten Gruppierungen sogar zu einer Demonstration gegen die Camps auf. Dagegen mobilisierten in Solidarität mit den Migrant_innen verschiedene lokale antirassistische Gruppen zu Gegenaktivitäten. Letztlich wurde die Demonstration „aufgrund von Sicherheitsbedenken“ verboten. Ende Mai wurden die Lager mit dem Vorwand, die sich im Lager verbreitende Krätze einzudämmen, geräumt. Anders als bisher organisierten sich die Geflüchteten daraufhin und besetzten gemeinsam den Platz einer Essensausgabe für Migrant_innen der Hilfsorganisation Salam; 25 von ihnen initiierten einen Hungerstreik, den sie allerdings nach zwei Wochen mangels Interesse seitens der Politik wieder aufgaben.

 

Am zweiten Juli morgens gegen vier Uhr führte die französische Polizei eine erneute Großrazzia durch und räumte sowohl das auf dem besetzen Platz errichtete Lager, als auch mehrere von Flüchtlingen besetzte Häuser. 600 Migrant_innen wurden festgenommen und in verschiedene Abschiebezentren, sogenannte „centres de retenir“ in der Umgebung von Calais, aber auch nach Lille, Paris und sogar in den Süden Frankreichs gebracht. Rund 400 der Festgenommenen wurden bereits an den folgenden Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt, aufgrund von Platzmangel, wie Aktivist_innen vor Ort vermuten. Sie machten sich daraufhin erneut auf den Weg nach Calais. Mehr als 200 wurden weiterhin festgehalten. Vielen von ihnen droht nun die Abschiebung, entweder in das europäische Land ihrer Erstankunft oder direkt in ihr Herkunftsland.

 

Was John Abdullah in dem eingangs angeführten Zitat beschreibt, sind die Prekarität und die Unsicherheit mit der die Migrant_innen Tag für Tag leben und auf die sie reagieren, der alltägliche Ausnahmezustand, der in Calais zur Normalität geworden ist. In Calais wird das komplexe System der europäischen Migrationspolitik im Herzen Europas sichtbar. Die Grenze ist keine undurchlässige Barriere, sondern übernimmt die Funktion der Stratifizierung, die in Bürger und Nicht-Bürger, in Menschen mit und ohne Papiere teilt. Es entsteht ein heterogener und hierarchisierter Raum von Bewegung und Zirkulation mit abgestuften Zonen der Souveränität und der Ausnahme. In diesem Ausnahmezustand, dem „Niemandsland zwischen Recht und politischer Faktizität, zwischen Rechtsordnung und dem Leben“ (Agamben 1998) leben die Migrant_innen, die Neubürger von Calais? Die materiellen und praktischen Technologien des gegenwärtigen europäischen Grenzregimes sind schließlich nur in Verbindung mit einer anderen Realität verstehbar: der des undokumentierten Migranten, der trotz aller Widerstände versucht die Grenzen zu überwinden und um die Bürgerrechte kämpft.

Eine Woche nach unserer Abreise ruft John mich an. „Ich bin in Dover, im Abschiebegefängnis [...]Ich weiß nicht was passiert, vielleicht schieben sie mich ab, nach Italien, Rumänien oder Afghanistan. Vielleicht habe ich aber auch Glück, sie lassen mich hier frei und ich kann meinen Asylantrag nochmal aufnehmen. Ich hab keine Ahnung, was morgen passiert!“

 

Alejandro Strus

Mari Poller

Eva Schmidhuber

Alexine Chanel

Yukiko Nagakura

Maria Fernandez Verdeja

Xiaopeng Zhou

Jolanda Todt

Gerda Heck

Stephan Mörsch

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